Der 36 Jahre alte Diplom-Informatiker Ibrahim Son ist seit vier Jahren Vorstandsmitglied der Union und war bislang als Geschäftsführer und zuletzt als zweiter Vorsitzender tätig. Vor seinem Engagement in der Union war Son Vorstandsmitglied der Krefelder Zentralmoschee (Merkez Cami). Ibrahim Son löste den bisherigen Vorsitzenden Mesut Akdeniz an der Spitze der türkischen und islamischen Vereine in Krefeld ab. Foto: Lammertz, Thomas (lamm)

Krefeld Der neue Vorsitzende des Vereins spricht über seine Ziele, Integration, Mesut Özil und Kartoffelauflauf.

Von Jens Voss

Warum haben Sie dieses Amt übernommen?

Son Ich sehe den Vorstandsvorsitz als neue Herausforderung und als Chance. Die Union ist bundesweit einzigartig und hat sehr viel Potenzial, um das Leben der türkischen und islamischen Community auf lokaler Ebene positiv zu unterstützen und zu prägen. Mit der Union kann durch die Bündelung aller gemeinsamen Interessen, der Stimme der türkischen und islamischen Bevölkerung in Krefeld gesellschaftlich und politisch ein Gewicht gegeben werden. Ich freue mich sehr darauf, an den Entwicklungsstufen der Union mitzuwirken und sie auf positiver Weise mitzugestalten.

Welche Ziele haben Sie?

Son Mit der Union möchte ich weiterhin als zentraler Ansprechpartner für die türkische und islamische Bevölkerung in Krefeld fungieren. Sowohl für unsere Mitgliedsvereine oder für alle anderen. Wir wollen die Strukturen ausweiten, um den Austausch und die Kooperationen intern und extern zu erleichtern und transparenter zu machen. Ich möchte weiterhin bei wichtigen Entscheidungsprozessen als Schnittstelle zwischen Politik und Gesellschaft agieren. Seitdem ich im Amt bin, haben wir die Schwerpunkte der Union ausgebaut. Den großen Schwerpunkt Integration habe ich von Herrn Akdeniz natürlich übernommen und diesen um den Bereich der Teilhabe ergänzt. Dazu habe ich ganz neue Bereiche eingeführt: Kultur und Tradition, Umwelt und Tierschutz, Religiöse Angelegenheiten, Sport, Familie und Finanzen und Wirtschaft. Damit möchte ich den Tätigkeitsbereich der Union ausweiten. Die türkische und islamische Community ist vielseitig und an vielen Thematiken interessiert. Unsere Geschäftsführerin Frau Aylin Külhan zum Beispiel hat den Tätigkeitsbereich „Umwelt und Tierschutz“ übernommen und hat ganz besondere Projekte in Zukunft geplant. Das macht Freude, in so einem motivierten Umfeld zu arbeiten.

Wie haben Sie Ihr Amt vorgefunden?

Son Meine Vorgänger und alle bisherigen Vorstandskollegen haben sich für den Aufbau der Union unfassbar engagiert und haben seit 1993 ihr Herzblut hier eingebracht: Im Ehrenamt, neben ihrer Familie und zu ihrer normalen 40-Stunden Woche. Ihnen möchte ich für ihr Engagement ganz herzlich danken.

Sind Sie ein betont religiöser Mensch? Wenn ja: Wie kamen Sie zur Religion?

Son Selbstverständlich. Meine religiöse Prägung habe ich mit meiner Muttermilch aufgesogen. Als Kind und Jugendlicher habe ich regelmäßig die Moscheen besucht. Mein Vater gehörte zu den Gründern der Yunus Emre Moschee in Stahldorf. Bis zu meinem Vorsitz in der Union war ich lange Jahre in der Krefelder Merkez-Moschee tätig. Religiös sein heißt für mich, besondere Werte zu leben, zum Beispiel verlässlich füreinander einzustehen, nach innerem und persönlichen Wachstum zu streben und nach Frieden und Einklang mit sich und allem anderen zu sein.

Ist Krefeld für Sie ein gutes Beispiel für Integration?

Son Definitiv, die Krefelder haben mittlerweile verstanden, dass es kein Widerspruch ist, Ibrahim zu heißen und zudem Krefelder zu sein. Viele Krefelder haben registriert, dass es eine Bereicherung ist, wenn jemand einen neuen kulturellen Hintergrund mit sich bringt, dass es ein Mehrwert für alle sein kann. Der Zusammenhalt in Krefeld ist vorbildlich und muss weiterhin gestärkt werden.

Wo sehen Sie Probleme oder Möglichkeiten zu einer Verbesserung im Miteinander?

Son Wir können nur versuchen, die Achtung für jeden einzelnen Menschen vorzuleben, ungeachtet seiner Herkunft, seines Glaubens oder seiner Persönlichkeit. Und für diese Haltung müssen wir eintreten. Vor allem in der heutigen Zeit, in der rechtspopulistische Strömungen an Zustimmung gewinnen und die Stacheln der Intoleranz, der Fremdenfeindlichkeit und der Ignoranz sich krampfhaft wieder hervorstechen. Die Verantwortung für das Fundament unserer Freiheit tragen alle Mitglieder unserer Gesellschaft – und in besonderer Weise unsere Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften.

Wo sind Krefelds Stärken im Miteinander der Religionen?

Son In Krefeld haben wir eine lang gelebte Tradition des Miteinanders und des respektvollen Umgangs untereinander. Es wurde über lange Jahre durchweg erarbeitet. Wir sehen uns alle als gleichberechtigt. Wir haben unsere unterschiedlichen Überzeugungen und kulturellen Praktiken gegenseitig anerkannt. Wir halten es für moralisch richtig, uns zu tolerieren, obwohl wir nicht einer Meinung sind. Wir haben verstanden, dass die plurale Gesellschaft seine Grundlage in der Unterschiedlichkeit hat und nicht seinen Widerpart. Es herrscht Fairness untereinander, in der die Religions- und Weltanschauungsfreiheit für alle für selbstverständlich erachtet wird. Wir haben auch verstanden, dass das was uns verbindet stärker ist, als das was uns trennt.

Die VHS will auch mit Musliminnen ins Gespräch über das Tragen des Kopftuches eintreten. Wie stehen Sie zum Kopftuch? Sollte eine muslimische Frau ein Kopftuch tragen? Ist es für Sie in Ordnung, wenn sich eine muslimische Frau dagegen entscheidet?

Son Ich sehe den offenen und ehrlichen Austausch als sehr wertvoll an. Wenn ein Austausch auf Augenhöhe und respektvoll ist, bin ich bereit mit jedem über jedes beliebige Thema zu sprechen. Kritik ist Teil unserer intellektuellen Kultur. Jeder Mensch hat gute Gründe für seine Sichtweise, dies gilt es zu tolerieren. Zum Kopftuch einer Frau möchte ich mich als Mann ungern äußern. Dies sollten und können Musliminnen sehr gut eigenständig machen. Aber unabhängig vom Kopftuch würde ich keinem Menschen vorschreiben, was er oder sie zu tragen hat. Die Art, wie man sich kleidet, ist eine sehr persönliche Entscheidung, die jede bzw. jeder für sich selbst treffen können und dürfen sollte. Und wenn ein Mensch das Bedürfnis hat, die innere Religiosität durch die selbst gewählte Erscheinungsweise darzustellen, dann sollte jedem auch die Möglichkeit hierzu gegeben werden: Sei es durch ein Kopftuch, ein Kreuz oder eine Kippa. Das ist meiner Auffassung nach, ein Bekenntnis zum pluralen Miteinander, das keine religiöse Neutralisierung kennt.

Können Sie es nachvollziehen, dass es in der deutschen Öffentlichkeit Kritik an dem Fußballer Mesut Özil gab, weil er sich als deutsche Nationalspieler mit dem türkischen Präsidenten Erdogan fotografieren ließ?

Son Natürlich verstehe ich die Kritik aus der Sicht der deutschen Öffentlichkeit. Was mir in dieser Diskussion damals gefehlt hatte, war, dass alle, die ähnliche Erfahrungen erlebt hatten wie Özil, sich durch ihn bestärkt gefühlt haben, zu reden. Unter dem Hashtag #MeTwo haben viele mit Migrationserfahrungen von der alltäglichen Diskriminierung erzählt, die sie in Deutschland erfahren haben. Dies wurde aus meiner Sicht nicht ganz wahrgenommen, was fatale Folgen haben kann. Denn wenn sich diese Menschen unerwünscht fühlen, fördert es die Ausgrenzung, Spaltung und Ghettobildung. Es führt zur Entfremdung und verhindert die Integration.

Erleben Sie Deutschland als tolerantes Land?

Son Ja und nein. Verglichen mit der prekären Lage der Toleranz in vielen anderen Teilen der Welt leben wir in Deutschland auf einer Insel der Glückseligen. Schließlich ist die Religionsfreiheit bei uns in der Verfassung garantiert. Trotzdem haben auch wir in Deutschland Handlungsbedarf. Ich bin besorgt über den zunehmenden Rechtspopulismus und Rassismus in Deutschland. Die Zahl religionsfeindlicher Straftaten ist in den vergangenen Jahren gestiegen. Religionsübergreifend gibt es christenfeindliche, islamfeindliche, antisemitische und gegen sonstige Religionen gerichtete Straftaten. Menschen mit Migrationshintergrund werden auf dem Bildungsmarkt, auf dem Arbeitsmarkt und auf dem Wohnungsmarkt benachteiligt. Sie werden wegen ihrer Herkunft, ihrem Glauben oder ihrer Hautfarbe diskriminiert.

Und wie wichtig ist Ihnen Toleranz gegenüber anderen Religionen?

Son Es geht nicht ohne Toleranz. In einer demokratischen Gesellschaft ist Toleranz unabdingbar. Die Toleranz gegenüber der religiösen Vielfalt in Krefeld liegt mir sehr am Herzen. Toleranz zeigt sich im Willen zum Miteinander. Das ist die Grundlage für die Friedensfähigkeit von Religionsgemeinschaften untereinander. Die Andersartigkeit muss ausgehalten und gelebt werden können. Ich werde mich gegen jede Art der Intoleranz gegenüber einer Religionsgruppe stellen.  Dafür werden wir entschieden mit der Union einstehen.

Was wünschen Sie sich für Krefeld?

Son Die wichtigsten Regeln unseres Zusammenlebens sind im Grundgesetz manifestiert. Die sind kostbar und wertvoll. Diese Werte müssen von uns allen gelebt werden. Politik und Zivilgesellschaft müssen alles dafür tun, damit diese Werte erhalten bleiben. Wir brauchen in Krefeld ein kraftvolles Eintreten für Toleranz und Offenheit. Für uns alle, für unsere Zukunft. Krefeld ist Heimat für alle Bürgerinnen und Bürger, aller Religionen und Konfessionen, auch für die, die sich keiner Religion zugehörig fühlen.

Eine persönliche Frage: Gibt es ein türkisches und ein deutsches Lieblingsgericht bei Ihnen?

Son Ich esse sehr gerne den Kartoffelauflauf mit Spinat meiner Ehefrau. Im Anschluss danach trinke ich meinen ungesüßten schwarzen Tee aus der Schwarzmeerküste, die meine Verwandten selber von Hand geerntet haben.

Link zum Interview:
https://rp-online.de/nrw/staedte/krefeld/krefeld-ibrahim-son-ist-vorsitzender-der-union-der-tuerkischen-und-islamischen-vereine_aid-37962779